Hans Näf  Leben und Wirken

 

 

 

 

   Zum Schreibprozess

 

   Die ersten 7 Jahre

   in der "Heimat" in

   Wolhusen

 

   In der Klosterschule

   Engelberg

   1. bis 8. Klasse

 

   Kriens Alpenstrasse

   ab Ostern 1931

 

   1948 - 52 Studium

   an der Universität

   Basel und die

   grosse Liebe

 

   1946/47 zwei

   Semester in Paris

 

   Militär

 

   1945/46

   Familienleben

 

   1945/46 Studium

   an der Universität

   Zürich

 

   Die Zeit nach 1959

 

   Schulpsychologe in

   Basel 1959 - 73

 

  Meine eigene

  Familie in Meggen

 

   Meine Zeit als

   Sekundarlehrer

 

   Bergsteigen und

   Skifahren

 

   Erlebte

   Schulgeschichte

Schulpsychologe in Basel 1959 bis 1973

 

In den jährlichen Gebirgs-WK traf ich immer wieder Bernhard Gelzer aus Basel, den ich vom Studium her kannte. Er war Jurist und früh schon im Grossen Rat, dem Basler Parlament, da er sich intensiv für seine Stadt engagierte. Wir hatten immer interessante Gespräche, die sich häufig um Schule und Erziehung drehten. Mehrmals hatte er mich ermuntert, mich um Stellen in Basel zu bewerben. Aber erst als er mir berichtete, Professor Probst, der seit 1928 in Basel Schulpsychologe war, werde pensioniert, und für diese Stelle brächte ich als Lehrer und Psychologe beste Voraussetzungen mit, war ich interessiert.

 

Zusammen mit dem Studienkollegen Ernst Sigrist wurde ich gewählt. Ernst übernahm die rechte Rheinseite, das Kleinbasel, zur schulpsychologischen Betreuung und ich die linke, Grossbasel. Wir unterstützten uns gegenseitig durch gemeinsame Planung unserer  Arbeit und Erfahrungsaustausch, was in jeder Hinsicht bestens klappte und uns den Start sehr erleichterte. Im Dachgeschoss des Schularztamtes, am Münsterplatz 1, hatte jeder eine kleine Kammer als Sprechzimmer und  gemeinsam hatten wir einen Warteraum zur Verfügung. Unser direkter Vorgesetzter war Professor Günter Ritzel, der Leiter des Schulärztlichen Dienstes, ein Präventivmediziner, der für unsere Arbeit  viel Verständnis hatte und uns sehr unterstützte.

 

Als erstes schafften wir die offene Sprechstunde unseres Vorgängers, die damals auch bei Ärzten noch üblich war, ab und reservierten pro „Fall“ zum vorneherein 1 Stunde. Meistens suchten uns Eltern mit einem Kind, das in der Schule irgendwelche Probleme hatte oder machte, auf. In der ersten Begegnung berichteten sie davon, während das Kind einen Menschen, ein Haus oder einen Baum zeichnete. Dann hätte eine gründliche Abklärung der Probleme, deren Ursachen und der notwendigen und möglichen Massnahmen folgen sollen, aber dann war die Stunde vorüber und wir mussten Eltern und Kind mit einem höchst oberflächlichen Ratschlag abspeisen. Zu den Sprechstunden herrschte bald ein solcher Andrang, dass man wochenlang warten musste. Wir waren uns bewusst, dass wir für einen Fall im Durchschnitt  mindestens vier Stunden zur Verfügung haben sollten. Das hatten wir beide schon bei den Anstellungsgesprächen  erklärt und waren beim Hauptschularzt auf Verständnis gestossen. Er hatte uns auch zugesichert, dass  er uns unterstützen würde, dass so rasch wie möglich weitere Psychologen angestellt werden könnten. Dass eine psychologische Beratung etwas anderes sei als ein psychologischer Rat, den man nach einer Viertelstunde geben konnte, wusste damals kaum jemand.  Die involvierten Stellen des Erziehungsdepartementes unterstützten unser Anliegen im Prinzip auch, aber ein System, das seit 1928 bestanden hatte, liess sich nicht schnell ändern. Deswegen waren wir jahrelang damit beschäftigt, mehr Mitarbeiter zu fordern, um die Qualität unserer Arbeit als Psychologen zu verbessern.  Durch den Personalmangel gerieten wir unter einen gewaltigen Arbeitsdruck und nur die allseitige Unterstützung und die Hoffnung, mit der Zeit doch befriedigende psychologische Arbeit leisten zu können, liessen mich in der unbefriedigenden Situation ausharren.

 

Dabei erlebte ich, dass ich mich trotz der Arbeitslast freier und wohler fühlte als bei meiner Lehrerarbeit in Meggen. Ich spürte das oft  schon auf dem  Weg zum Arbeitsplatz, der mich durch die St. Alban-Vorstadt auf den Münsterplatz führte. Ich meinte anfänglich, es sei die Atmosphäre des alten Basel,  die mich beflügle, bis ich realisierte, dass es die andersartigen Arbeitsvoraussetzungen waren. Jetzt kamen Menschen zu mir, die mich als Berater aufsuchten, also von mir Hilfe erwarteten. Als Lehrer hatte ich täglich die Aufgabe gehabt, eine Schar Kinder für meinen Unterricht zu interessieren, sie für Stoffe zu motivieren, zu denen sie kaum persönliche Beziehung hatten. Die Arbeit  als Schulpsychologe brauchte geduldiges Zuhören, um ein Problem zu verstehen und gemeinsam Lösungen zu suchen.  Diese rezeptive Haltung lag mir besser als das Dominieren und Instruieren als Lehrer. Es war für mich weniger Nerven belastend, da ich Besucher  hatte, die aus eigenem Antrieb kamen, denen ich  mich nicht aufdrängen musste.

 

Bei Besuchen in den Schulhäusern, wenn wir mit Lehrern Besprechungen abgemacht hatten, war die Situation allerdings schwieriger. Viele Lehrer erwarteten vom Psychologen zum vorneherein, bewusst oder unbewusst, kritische Fragen und verhielten sich defensiv. Mit der Zeit „kannte“ man sich, und es bestand weiterhin Distanz oder es entwickelte sich ein Vertrauensverhältnis. Das war nicht nur in den Beziehungen zu einzelnen Lehrer/Innen so, sondern auch zwischen einzelnen Kollegien und den Psychologen. Mit der Zeit hatte ich Schulhäuser,  zu denen ich gern hinging, weil ich dort als Freund und Helfer willkommen war, und andere, die mich eher belasteten, weil ich das Gefühl hatte, nicht willkommen zu sein.

 

 

Schulreife

 

Inhaltlich häuften sich am Anfang unserer Tätigkeit die Abklärungen der Schulreife. Viele Erstklass-Lehrer/Innen meldeten Kinder bei uns an, weil sie ihnen für die Schule zu wenig reif  erschienen.  In den ersten drei Monaten nach Schulbeginn beschäftigten uns die Abklärungen der Schulreife so sehr, dass für anderes kaum Zeit blieb. Dabei machten wir die Erfahrung, dass ein Teil der Kindergärtnerinnen die Schulreife ihrer Zöglinge sehr gut beurteilen konnte, andere, vor allem Anfängerinnen, dagegen häufig hilflos waren.  Deswegen beschlossen wir Schulpsychologen eine Ausbildung für Kindergärtnerinnen anzubieten,  und schickten allen Kindergärtnerinnen als erstes Hilfsmittel eine Anleitung zur Einschätzung der Schulreife.  Damit sollten sie die Eltern besser beraten können, sodass eindeutig schulunreife Kinder nicht nach einigen Wochen wieder aus der Schule genommen werden mussten.

 

 

Zusammenarbeit in der Verwaltung

 

Ernst und ich waren Neulinge im Verwaltungsbetrieb und kamen nicht auf die Idee, dass eine dermassen einleuchtende Massnahme von der Rektorin der Kindergärten abgesegnet werden müsste. Unsere Kompetenzüberschreitung brachte  Schwierigkeiten und verzögerte die notwendigen Schritte. Es war eine wichtige Erfahrung zu erleben, dass wir uns im Verwaltungsbetrieb sorgfältig überlegen mussten, wen wir mit  Äusserungen, Vorschlägen oder gar  Massnahmen verärgern könnten. Ich lernte daraus, dass Vorbesprechungen keine Zeitverschwendung sind, sondern oft eine Qualitätsverbesserung in der Sache, und sicher das beste Mittel, Widerständen zuvor zu kommen. Zuwenig an Vorbesprechung bewirkt das Gegenteil!

 

 

Lehreraus- und Weiterbildung

 

Leider haben wir diesen Grundsatz bei einer nächsten Initiative,  die wir als Schulpsychologen ergriffen, wieder zu wenig beachtet. Wir erkannten schon im ersten Jahr, dass Lehrkräfte in Sonderklassen (Hilfsklassen für leistungsschwache, Beobachtungsklassen für verhaltensschwierige Kinder) keine heilpädagogische Zusatzausbildung hatten und deswegen oft überfordert und zu wenig kompetent waren. Ohne die zuständigen Professoren der Universität und andere eventuelle Interessenten  zu begrüssen, zu konsultieren und dadurch zu motivieren, beantragten wir, dass an der Universität Basel ein Heilpädagogisches Institut geschaffen werden solle. Unsere Vorschläge wurden abgelehnt. Heilpädagogik sei kein wissenschaftliches Fach und gehöre nicht an die Universität. Wir Psychologen und Schulärzte verfolgten das Projekt aber weiter und erreichten, dass das Erziehungsdepartement in eigener Regie in den 60er Jahren in kürzester Zeit das Institut für spezielle Psychologie und Pädagogik schuf.  Dieses wurde vier Jahrzehnte später dann doch von der Universität übernommen. Bis dahin wurde es  weitgehend von Ernst Sigrist konzipiert und anfänglich auch geleitet.

 

Ich wurde 1964 Leiter des SPD, da wir inzwischen fünf Psychologen waren und interne Koordination und Vertretung nach aussen notwendig wurden. Es war mir auch klar geworden, dass wir eng mit der Lehrerausbildung, dem Schulfürsorgeamt und der Lehrerfortbildung zusammen arbeiten müssten. Daraus entstanden Arbeitsteams von Ärzt/Innen, Psycholog/Innen und Sozialarbeiter/Innen, die sich zur Besprechung schwieriger Fälle regelmässig trafen. Die Teams klärten vor allem ab, ob ein Kind in ein Heim eingewiesen werden müsse und übernahmen dann die Betreuung der Kinder, die von unseren Diensten in  Heimen platziert werden mussten. Allmählich nahmen diese Teams auch Einfluss auf die Art und Weise, wie in den Heimen erzogen wurde. Einige ausserkantonale Anstalten setzten wir wegen ihrer Härte den Kindern gegenüber auf eine schwarze Liste und vertrauten ihnen keine Kinder mehr  an. In den eigenen Schulheimen führten wir Besprechungen ein, um jedem Kind optimale Entwicklungschancen zu geben. Anfänglich waren wir für die Betreuer/Innen, die doch nach bestem Wissen und Gewissen erzogen, eine Bedrohung, wenn wir  als Psychologen uns in ihre Arbeit einmischten. Ich erlebte aber, dass  im Heim auf dem Chaumont, das ich jeden Monat zusammen mit einer Sozialarbeiterin besuchte, im Verlauf der Jahre eine sehr offene und vertrauensvolle Zusammenarbeit entstand. Es kam sogar so weit, dass wir Besucher mit den Kindern unter vier Augen reden konnten, um herauszufinden, wie sie sich im Heim fühlten, was sie brauchten oder vermissten. Allmählich veränderte sich der Erziehungsstil von autoritärem Fordern mit viel Strafen in Richtung Besprechung der Probleme und gemeinsames Suchen optimaler Lösungen.

 

 

Erziehung, aber wie? (Vgl. auch hier.)

 

Diese Bemühungen um eine kindsgemässere Erziehung in Familien, Schulen und auch Heimen wurden in den 60er Jahren laufend stärker. In der Schweiz hatte das Buch “Schatten über der Schule“ von Emil Schohaus viele Lehrer/Innen aufgeschreckt. Ich persönlich hatte schon als Lehrer neue Wege gesucht und, ausgehend von der Individualpsychologie, auch gefunden, sodass ich kompetent mitreden konnte. Natürlich propagierte ich nicht die antiautoritäre Erziehung, die in den 60er Jahren bekannt wurde und heute wieder als Kuschelpädagogik diffamiert wird. Ich vertrat aber eindeutig, dass in der Erziehung mehr Freiheit, vor allem Abschaffung der Körperstrafen, und mehr Wärme und Freundlichkeit einkehren müssten. Dabei konnte ich mich auch auf die humanistischen Theorien, die allmählich bekannt wurden, stützen. Diese gingen von einem positiven Menschenbild aus. Der Mensch sei von Natur aus neugierig, an Zusammenarbeit und guten Beziehungen interessiert und mit liebevollem Verständnis formbar. Er sei nicht ein wildes Tier, eigensüchtig und grausam,  das mit Druck und Angst vor Strafen dressiert werden müsse.  Das waren auch für mich  zum Teil neue Erkenntnisse und Forderungen, die ich allerdings mit freudiger Bereitschaft zur Kenntnis nahm und bei jeder Gelegenheit unter die Lehrerschaft und in die Erziehung hinein trug. In mir und in meiner Umgebung entstand in diesen Jahren ein neues Menschenbild und ein freundlicheres Erziehungskonzept.

 

Parallel zu den Publikationen wurden ab den 60er Jahren  eine  Menge psychologisch-pädagogische Ausbildungen angeboten,von denen ich eine ganze Reihe besuchen konnte. Die Stadt Basel stand finanziell sehr gut und im Erziehungsdepartement herrschte grosse Bereitschaft, Mitarbeitern Fortbildung zu ermöglichen. So konnte ich mich in Gesprächspsychotherapie ausbilden, Seminare  in Gruppendynamik, autogenem Training, Kinderpsychiatrie, Kommunikationspsychologie usw. besuchen. Teilweise waren das kurze Orientierungen, zum Teil gründliche Einführungen. Es war für mich eine Selbstverständlichkeit, die mir wichtigen Erkenntnisse in meinem Arbeitsbereich weiter zu geben.

 

 

Gesprächspsychotherapie  (Vgl. auch hier.)

 

In einem Seminar für klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie lernte ich eine für meine Tätigkeit als Schulpsychologe entscheidende Technik, nämlich das aktive Zuhören. Wie so viele meinte ich vor diesem Seminar, ich würde in Gesprächen gut zuhören, war aber häufig enttäuscht, wenn ich in Gesprächen, vor allem mit Vätern, in eine fruchtlose Auseinandersetzung geriet. Meisten war dies der Fall, wenn es  um Versetzung eines Kindes in eine Sonderklasse ging. Die Mütter waren damit fast immer einverstanden, meine und des Lehrers Gründe leuchteten ihnen ein. Dann kamen die Väter und leisteten Widerstand. Natürlich hörte ich ihnen zu und erklärte ihnen dann die Gründe nochmals, was aber oft wenig nützte. Sie liessen sich von mir nicht überzeugen. Hie und da ging es längere Zeit hin und her, öfters wurden wir lauter. Es kam auch vor, dass einer schimpfend davon lief. In der Ausbildung zum Gesprächspsychotherapeuten  wurde mir klar, dass ich den Partnern zu wenig zu erfahren gab, dass ich ihre Argumente gehört und verstanden hatte. Zuhören und verständnisvoll nicken zu dem was sie gegen die geplanten Massnahmen vorbrachten, genügten nicht. Ich musste auf die Argumente, die vorgebracht wurden, eingehen und sie nicht widerlegen. Erst wenn sie sich verstanden fühlten, waren Gesprächspartner, die andere Meinungen hatten als ich bereit und innerlich in der Lage,  auch mir zuzuhören. Von da weg hatte ich viel weniger fruchtlose Auseinandersetzungen, bei denen jede Partei immer wieder die gleichen Argumente vorbrachte und der Widerstand immer heftiger wurde. Leider ist diese Form von Kommunikation, bei der man den „Gegner“ wirklich anhört, seine Argumente zu verstehen sucht, auch heute noch wenig üblich. Die meisten Diskussionen sind ein Hin- und Herschmeissen der immer gleichen Argumente, ohne den klar bewussten Versuche, einander zu verstehen und die möglichen Lösungen zu suchen.

 

Schon in den 50er Jahren, als Lehrer in Meggen, hatte ich mich in meinen Arbeitsbereichen mit grundlegenden Veränderungen auseinandersetzen müssen, dürfen und wollen.  Damals habe ich angefangen, darüber zu referieren und zu publizieren, denn es war mir ein Anliegen, die neuen, meines Erachtens wertvollen Ideen über Schulung und Erziehung in die Lehrerschaft und in die Öffentlichkeit hinein zu tragen. Im Schulblatt der Stadt Luzern schrieb ich schon 1958 über Grundformen der Fehlerziehung, in denen ich zu harte und zu verwöhnende Haltungen einander gegenübersetzte und für einen vernünftigen Mittelweg plädierte.

 

In den 60er Jahren in Basel unterstützte  ich das neue erzieherische Denken, das humanistische Pädagogik und Psychologie genannt wurde, auch  durch Vorträge und Publikationen, nicht nur in meiner schulpsychologischen Arbeit. Diese Publikationen scheinen mir den Geist und die Inhalte klarer wiederzugeben, als Erinnerungen aus 50 Jahren Distanz es vermöchten. Sie sind meines Erachtens noch heute lesenswert und keineswegs überholt, denn im Prinzip geht es schon dort darum, einen sinnvollen Mittelweg zu finden zwischen den Extremen eines „Drills zu Kadavergehorsam“ und des „Laisser faire“, einer „Kuschelpädagogik“. 1972 wurde ein ausführlicher Bericht „Aus der Praxis des Schulpsychologen“  in der Schweizer Erziehungsrundschau veröffentlicht.

 

 

Schulreform

 

Bei den Diskussionen um die Schulreform in den 60er Jahren wurde der SPD natürlich auch aktiv. Dabei ist wohl der Artikel „Das psychisch auffällige Kind in der Normalklasse“ (Basler Schulblatt, Heft 4, 1967) entstanden. Bei dieser Reform waren vor allem sozialpolitische  Anliegen im Zentrum, da soziologische Untersuchungen ergeben hatten, dass Grundschicht-Kinder praktisch keine Chancen hatten, nach 4 Jahren Primarschule eine höhere Schule zu besuchen. In den Gymnasien befanden sich zu 80 bis 90% Kinder aus der Oberschicht. Durch eine andere  Organisation sollten die Bildungschancen der Grund- und Mittelschichtkinder verbessert werden. Ich persönlich dachte damals vorwiegend im Rahmen des bestehenden Schulsystems und ging, aus heutiger Sicht, zu wenig auf die sozialen Ursachen der Probleme ein. Meine jungen Kollegen und Kolleginnen kritisierten damals meine  Sozialblindheit als bürgerliches Klassendenken und warfen mir vor,  durch mein Konzept der Schulpsychologie  werde das ungerechte Bildungssystem stabilisiert. Da ich nicht recht begriff, was sie meinten, konnte ich den Standpunkt der Jüngern auch nicht vertreten. Mir schienen damals auch die organisatorischen Erneuerungen weniger wichtig zu sein. Die persönlichen Einstellungen und Verhaltensweisen der Lehrkräfte schienen mir  wesentlicher zu sein als die äussere Organisation des Schulwesens. Aus- und Weiterbildung  der Lehrkäfte im persönlichen Denken und Fühlen und in der Kompetenz, Klassen kooperativ zu führen, schienen mir wichtiger. Mich beschäftigten  vor allen jene Probleme, mit denen ich als Lehrer  gerungen hatte. Dazu veröffentlicht ich 1972 einen Artikel über „Gruppendynamik in der Lehrerbildung“, der in „Die menschlichen Beziehungen in der Schule“ Verlag Sauerländer, Aarau 1972 erschien.

 

 

Antiautoritär

 

Seit den 60/70er Jahren fanden auch in Basel Versuche statt, Kindergärten, Schulklassen und das AJZ  (autonomes Jugendzentrum) radikal antiautoritär zu führen. Unser Sohn Werner war Gymnasiast und, wie viele seiner Kollegen, von den Versuchen der antiautoritären Leitung von Schulen und andern Institutionen, begeistert. Er machte bei der Gestaltung des AJZ mit und berichtete beim Essen immer wieder davon. Er freute sich, selbständig, mit Gleichaltrigen zusammen, einen Jugendtreffpunkt  aufbauen zu können. Dabei litt er sehr darunter, dass einige „Querschläger“ jedes vernünftige Gespräch und alle Lösungsansätze verunmöglichten und nicht zuliessen, dass die Gespräche irgendwie geleitet wurden. Seine Erzählungen und fast alle Erfahrungen antiautoritärer Gruppen waren ernüchternd und zum Teil traurig. Sie bestätigten meine Erfahrungen als Lehrer: wenn eine Gruppe ganz ohne Leitung ist, entstehen endlose Diskussionen und Entscheide werden immer länger hinausgezögert oder sind überhaupt nicht möglich. Es ergibt sich oft ein totales Durcheinander und in der Regel ein gehässiger Machtkampf.  Schon Kinder in der Familie brauchen Anleitung und Hilfestellung durch die Eltern, um zu einem mehr oder weniger friedlichen Miteinander heranzureifen. Werden Kinder- oder Erwachsenengruppen sich selber überlassen,  ergeben sich auf der Sachebene meistens Leerlauf und sozial eine grausame  Hackordnung. Es passiert Ähnliches, wie wenn Gruppen autoritär mit Druck und Zwang geleitet werden. Es entwickeln sich Feindseligkeiten, Machtkämpfe und die entsprechenden Rollen wie Mitläufer, Oppositionelle, Saboteure , erfolglose Vermittler, Despoten usw.

 

Es war mir schon in Meggen ein Herzensanliegen gewesen, meine eigenen Kinder und meine Schüler zu selbständig denkenden und mutig handelnden, aber auch zu rücksichtsvollen und anpassungsfähigen und -willigen Menschen zu erziehen. Dabei war ich aber anfänglich unsicher – wie so viele andere - ob es nicht eine hoffnungslose Illusion sei, Menschen durch entsprechende Erziehung zu konstruktiven Lösungen von Interessengegensätzen und Meinungsverschiedenheiten  zu führen.  Das sei eine zum Scheitern verurteilte Illusion las und hörte ich häufig: „Schau Dir doch die Menschheitsgeschichte an, Mord und Totschlag, Hass und Feindschaft, immer wieder Krieg, „homo homini lupus“! Das Christentum mit dem „Liebet eure Feinde“, „Haltet auch die andere Backe hin“ ein totaler Fehlschlag! Hass und Verfolgung, auch unter den Christen wegen religiöser Differenzen, waren doch an der Tagesordnung. Die Geschichte beweist doch, dass Frieden unter den Menschen eine Illusion ist.“

 

 

Das Menschenbild

 

Das Menschenbild, das ich in der Schule und im Studium mitbekommen hatte, sagte: „Menschen sind mit der Erbsünde belastet und werden, ähnlich wie Tiere, von Trieben beherrscht. Sie töten, um essen zu können, um Besitz zu haben, halten Sklaven wie Tiere, Männer vergewaltigen die Frauen und es gibt nur wenige, die ihre Triebe  nicht rücksichtslos befriedigen.“

 

Im Religionsunterricht hatte ich dagegen vernommen, dass ich meine Triebe beherrschen und Gott wohlgefällig leben müsse.  Jesus hätte gezeigt, dass es einen Weg zum Paradies gebe und die  Kirche werde mich dahin führen, wenn ich standhaft sei in diesem Glauben und in meinem Bemühen um ein liebevolles und tugendhaftes Leben. Die Hoffnung,  dass die Menschen lernen könnten und sollten, aus Liebe heraus zu leben, habe ich trotz  all den gegenteiligen Erfahrungen der Menschheit immer noch.

 

Ich wurde mir dessen erst in der Rückschau auf mein Berufsleben richtig bewusst. Dass religiöse Appelle wenig wirksam sind, ist offensichtlich, ob die Wege der Vernunft, der Philosophie, Psychologie und Pädagogik näher an den Traum heranführen können? Lange Zeit schien Darwins Lehre von der Auslese durch Kampf als natürliche Veranlagung der Menschen dagegen zu sprechen. Seit einigen Jahren häufen sich dagegen Forschungsberichte von Biologen, die den Menschen auch aus ihrer Sicht als Wesen sehen, das an liebevoller Zusammenarbeit ebenso interessiert ist wie an Selbstdurchsetzung und egoistischer Konkurrenz.

 

Meine persönlichen Erfahrungen mit den Menschen sind von Geburt an sehr positiv. Ich habe fast nur liebevolle, freundliche Menschen getroffen, nie solche, denen ich Mord und Totschlag, Raub und Betrug zutrauen würde. Die persönlichen Erfahrungen haben mich, entgegen der grausamen Gegenwart und Vergangenheit, die es auch gibt, zu einem „blauäugigen Optimisten“ gemacht. Als ich bei einer Abschiedsfeier vor vielen Jahren einmal als solcher gerühmt wurde, fühlte ich mich ausgelacht. Heute kann ich besser verstehen, dass Menschen, die unermüdliche Sucher nach dem Weg zum Guten im Menschen sind, manchmal naiv erscheinen. Heute freue ich mich darüber, dass mein Optimismus immer noch da ist.

 

 

Lehrersein und Selbsterfahrung

 

Von 1962 an hatte ich einen  Lehrauftrag für pädagogische Psychologie am Lehrerseminar, wo ich den angehenden Lehrern/Innen Verständnis für Kinder und Jugendliche vermitteln sollte. Ich fühlte mich am Seminar insgesamt nicht sehr wohl und schob das auf die steife Atmosphäre.

 

Dass es auch mit meiner Unsicherheit zusammenhing, wurde mir erst später bewusst, als ich, auf Initiative einer Kollegin, an einer von Dr. Konrad Wolff geleiteten psychoanalytischen Selbsterfahrungs-Gruppe teilnahm. In dieser lernte ich im Verlauf von 3 Jahren meine persönlichen, bis dahin unbewussten Schwächen und Stärken  besser kennen. Unbewusste Gefühle und Wertvorstellungen, die Einstellungen und Verhaltensweisen bei mir und bei andern aufzudecken, war in dieser Gruppe das Hauptanliegen, und nicht das Vermitteln von pädagogischem und psychologischem Wissen. Ich hatte zwar schon früher erfahren, dass Menschen in ihrem Denken und Handeln stark von unbewussten Motiven gelenkt werden, auch wenn sie meinen, von sachlichen oder rationalen Überlegungen bestimmt zu werden. Wie sehr unbewusste Wertvorstellungen und Ängste auch mein Leben steuern, wurde mir erst in dieser analytischen Selbsterfahrungsgruppe klar. Diese Erfahrung  beeinflusste denn auch meine Konzeption von Lehreraus- und -weiterbildung, bei der mir  Selbsterfahrung, das heisst Aufdeckung und Bearbeitung unbewusster Bedingtheiten von erzieherischem Verhalten, unerlässlich zu sein scheint.  Aus persönlicher Erfahrung und aus Beobachtungen von Lehrer/Innen und Erzieher/Innen erlebte ich immer wieder, wie wir aus unbewussten Gefühlen, Wertvorstellungen und Meinungen heraus handeln. Es wurde mir auch klar, dass dies eigentlich bei allen Menschen fortlaufend  so ist. Wir entdeckten und besprachen diese Zusammenhänge auch innerhalb unseres Psychologenteams und dann auch innerhalb der Familien. Diese Einsichten halfen zwar nicht immer bei der Bewältigung von Meinungsverschiedenheiten, was mich stimulierte, dem Problem weiter nachzugehen. Gleichzeitig engagierte ich mich stärker bei der Lehrerfortbildung. Dabei interessierten mich die didaktischen Anliegen weniger, das Hauptproblem schien mir das persönliche Verhalten zu sein und zwar  nicht nur bei Erziehungsberufen, sondern beim Umgang von Menschen überhaupt. Immer stärker wurde mein Wunsch, diesen Themen mehr Aufmerksamkeit widmen zu können.

 

 

Abschied

 

Als ich wieder einmal dem Vorsteher des Erziehungsdepartementes  begründete, warum der SPD weiter ausgebaut werden müsse und er mir erklärte, jetzt sei Schluss mit der Vergrösserung, ich glaube, er sagte sogar mit der  Aufblähung des Schulpsychologischen Dienstes, war ich masslos enttäuscht. Jahrelang hatte ich gehofft, so weit zu kommen, dass wir nicht nur einigermassen verantwortbare Abklärungen machen könnten, sondern auch entsprechende Beratungen von Eltern, Jugendlichen und Lehrkräften.

 

Dazu kam meine Überzeugung, dass die Lehrerausbildung durch berufsbegleitende Fortbildung ergänzt werden müsse, ja dass letztere sogar noch wichtiger sei. Erst wenn die Lehrkräfte die Probleme des Berufs wirklich erlebten, könne eine problembezogene Weiterbildung erfolgversprechend sein. Hier und auch in ähnlichen Berufsfeldern wollte ich in Zukunft tätig sein. Erste Versuche, Lehrkräfte in themenbezogenen Selbsterfahrungsgruppen weiter zu bilden, hatte ich schon mit Lehrern der Stadt Luzern gemacht. Auch hatte ich schon drei Mal eine Woche lang im Rahmen des schweizerischen Vereins für Handarbeit und Schulreform mit Lehrer/Innen an ihrer Klassenführung  gearbeitet. Immer hatte ich von den Teilnehmer/Innen sehr positive Rückmeldungen bekommen. Ich war überzeugt, durch meine Erfahrungen als Lehrer und Schulpsychologe eine wirkungsvollere Methode der Lehrerausbildung gefunden zu haben als die bisher praktizierten.

 

In den 60er Jahren protestierte die Jugend gegen die autoritären Schulen und verlangte gesamtgesellschaftlich mehr Freiheit und Mitbestimmung. In der Familie waren wir mit unseren drei Söhnen damit natürlich intensiv konfrontiert und hatten auch Verständnis für ihr Denken. Dabei fanden wir Wege, gegensätzlich Ansichten und Forderungen in der Regel zur Zufriedenheit aller zu lösen. Dieses Wissen und Können wollte ich weitergeben, denn ich war überzeugt, dass friedliche Konfliktlösungen nicht nur in der Familie, in den Schulen und Betrieben, sondern für die Gesellschaft überlebensnotwendig sind. Das Buch meines früheren Lehrers Karl Jaspers „Die Atombombe und die Zukunft der Menschheit“ und die Bedrohungen während des Kalten Krieges hatten mich geprägt, aber auch die Liebesbotschaft der christlichen Erziehung. Als Schulpsychologe kam ich mir vor wie ein Lawinenhund, der Opfer gesellschaftlicher Unzulänglichkeiten aufspüren und befreien muss und damit voll beschäftigt ist. Dabei hatte ich doch weit wichtigere Aufgabe zu erfüllen. Das war mir damals zwar kein bewusster Gedanke, wohl aber die unbewusste Triebfeder meines weiteren Planens und Wirkens.

 

1971 hatte ich am internationalen Kongress für Gruppendynamik in Wien ein Referat von einer Ruth Cohn  von New York über themenzentrierte interaktionelle Selbsterfahrung gehört, das mich faszinierte und animierte, in dieser Richtung weiter zu suchen. Ich hatte mich bei ihr für einen Kurs im nächsten Jahr angemeldet. All das bewog mich, meine Stelle als Leiter des SPD Basel-Stadt aufzugeben und mich selbständig zu machen. Mimi, die inzwischen voller Begeisterung als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Firma Sandoz arbeitete, ermutigte mich dazu, auch mit der Gewissheit, dass sie jederzeit voll arbeiten könnte, wenn es finanziell knapp werden sollte für uns. Vielleicht hoffte sie heimlich darauf, sich noch mehr ihrem Beruf widmen  zu können. Jedenfalls verspotteten wir Männer sie bei Gelegenheit, der Herr Sandoz sei ihr wichtiger als wir, die Familie.

 

 

 

 

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